In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Freitag, 28. Dezember 2012

215 Millionen Kinder arbeiten in Minen, Steinbrüchen und Fabriken in aller Welt. – Diesmal bitten die Kinder Indiens um Deine Unterstützung!


Indien ist das Weltzentrum der Kinderarbeit – fünfjährige Kinder werden an Menschenhändler verkauft, zur Arbeit gezwungen, missbraucht und geschlagen.

Eine AVAAZ-Aktion  zur Unterstützung indischer Kinder.

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Bevor wir Kinder als eine Aufgabe, die das Leben an uns stellt, sehen, sollten wir sie als Gabe sehen!

Das Leben hat unendliches Vertrauen in uns Menschen, dass wir der Lebens-Gabe Kind gerecht werden.
Die Frage ist, ob wir alles dafür tun, diesem Vertrauen gerecht zu werden.

Auch Tiere bekommen Kinder und mancher mag fragen: Ist ein Katzenbaby, ein Hundebaby, ein Löwenbaby eine Gabe des Lebens?
Ja, für mich ist das keine Frage.
Manches Tier-Kind wird von seiner Mutter fallen gelassen; nie kennen wir die genauen Hintergründe.
Aber wir haben viele viele Beispiele, wo sich aufopferungsvollst Tier-Eltern um ihre Kinder kümmern.
Und wir wissen, dass das auch viele Menschen-Eltern tun.
Immer in dem Rahmen, in dem es mit ihnen geschehen ist.
Und mancher Rahmen ist da leider aus Beton.
So manches Kind ist an ihm zerbrochen oder hat ihn mit unendlichem Kraftaufwand sprengen müssen, doch auch sprengen können.

Ein Rahmen aus Liebe passt sich jedem Sein an.
Jedes Sein will anders sein.
Solange wir das nicht erkennen, steht es nicht gut um unsere Erziehung in Schule und Familie.

Manchem macht dieser Rahmen aus Liebe Angst, weil er die Liebe nicht sehen kann und denkt, dass ein, sein Kind ins Nichts fallen könnte. Eben deshalb fühlt er sich dann ganz besonders in der Pflicht, für einen Rahmen seiner Art zu sorgen.

Deshalb ist es wichtig, dass wir einenmöglichen Rahmen aus Liebe für jeden sichtbar und erfahrbar machen, der ihn nicht sehen kann, weil er ihn nicht erlebt hat.

Weihnachten ist dafür eine besonders gute Zeit. 
Da wird vor allem auch deutlich, dass die Liebe nicht nur der Rahmen ist, sondern DIE Äußerung der Liebe als Kind selbst.
Dieses geliebte und liebende Kind lebt in allen von uns.

Kinder sind eine Äußerung der Liebe.

Verstehen wir doch, dass Liebe so vielfältig ist, dass wir sie nie erfassen können ...
Wir können weder die Liebe noch ein Kind fassen und erfassen.

Wir können sie, die Liebe, und das Kind, die Gabe des Lebens, im Herzen tragen ... in aller Unvollkommenheit ... aber mit großem Wunsch und Willen nach höchstmöglicher Entfaltung des Lebens, das seinem Ursprung und Wesen nach Liebe ist.

Sonntag, 2. Dezember 2012

Am Anfang ist es Liebe / Eine Blume, die das Kind dem Vater schenkt ...


Es ist nun schon fünf Jahre her, dass ich diesen Post auf der Ethik-Post veröffentlichte. Gerade habe ich ihn wiedergelesen, weil er angeklickt worden war. Und mir ist aufgefallen, wie sehr er ein Thema dieses Blogs hier ist.
Dieser Post von damals berührt mich heute noch sehr. Er lautet im Original:


Liebe Anne-Kathrin,

ich danke Dir, dass Du mir erlaubt hast, Deine Zeilen hier hineinzuschreiben. Als Du sie im letzten Jahr verfasst hast, warst Du 16 und wir trafen uns im Fach Deutsch in der 11. Klasse. Jeder sollte damals im Rahmen einer Art Poetry-Slam einen Text schreiben, also eine Form von Gedicht, in dem alles erlaubt ist; wenn man will, kann man mittendrin singen oder eine Strophe auf Chinesisch vortragen.
Bewundernswert, was ihr alle damals geschrieben habt; jeder kam ja nach vorne und trug seinen Text vor. Für jeden gab es Beifall, ob sein Text vier Zeilen umfasste oder 40.
Ich war einfach nur fasziniert von der Vielfalt dessen, was ihr vortrugt.
Als Du Deine Zeilen gelesen hast, war es zunächst sehr still.
Ich war innerlich fassungslos.
Niemand hatte damit gerechnet, dass unter uns jemand ist, der so bis in seine Tiefen verletzt ist und uns Anteil nehmen lässt.
Ich glaube, ich darf im Namen aller damals Anwesenden sagen: danke für Dein Vertrauen!
Du stehst für viele andere junge Menschen, denen es auch so geht.
Du hattest den Mut zu sprechen.
Oft habe ich in unserem gemeinsamen Jahr Deine Traurigkeit in Deinem Gesicht, Deinen Augen gelesen, gesehen.
Von ganzem Herzen wünsche ich Dir, dass aus großem Trost, den Deine Seele erfahren möge, langsam, aber doch beständig und immer mehr und immer mehr wieder Freude in Dein Leben einziehen darf.


Deine Gedanken sind überschrieben

Beziehungen

Kind und Vater
Am Anfang ist alles offen
Vertrauen – Misstrauen
Zu Beginn war das Vertrauen
Doch viele Enttäuschungen durch den Vater
ließen Misstrauen wachsen

Hoffnung – Enttäuschung
Zu Beginn gab es viel Hoffnung
Doch viele Handlungen des Vaters
ließen die Hoffnung schwinden
und Enttäuschung blieb zurück.
Freude – Traurigkeit
Zu Beginn dachte das Kind immer mit Freude an den Vater
Doch sein mangelndes Verständnis
ließen von der Freude
nur Traurigkeit übrig

Liebe – Hass
Am Anfang ist es Liebe
Eine Blume, die das Kind dem Vater schenkt
Doch der Vater erkennt das Geschenk nicht
Die Blume bleibt unbeachtet
Seinen Augen bleiben solche Dinge verborgen
Da nur Erfolg und Materielles für ihn wichtig sind
Sein Ziel fest im Blick
Zertritt er die Blume –
Langsam wächst an ihrer Stelle eine neue Pflanze –
genährt von Misstrauen und Enttäuschungen
- Hass –
- Beziehungen -


Sonntag, 4. November 2012

Kinder sind Augen, die sehen, wofür wir längst schon blind sind.


Dieses chinesische Sprichwort habe ich vorhin beim sonntagnachmittäglichen Web-Stöbern - das Wetter ist draußen nicht gerade allerseligenhaft - auf einem Blog gefunden, dem von Jasmin

Wer als Kind Eltern hat, die einen so sehen können, mit Erwachsenen zu tun hat, die einen so wertschätzen ... hmm ... Paradies ... 
Vor allem der im Post-Titel zitierte Satz ist so bemerkenswert - der nächste auch ... na, ich glaube, da findet jeder etwas ...

♡   Das Sprichtwort spricht auch von unserem inneren Kind   ♡


Was ist ein Kind?

Es ist Liebe
die Gestalt angenommen hat.
Es ist Glück,
für das es keine Worte gibt.
Es ist eine kleine Hand,
die Dich zurückführt in eine Welt,
die Du schon vergessen hast.
Schön dass Du da bist,
und unser Leben reicher machst!
Kinder sind Augen,
die sehen,
wofür wir längst schon blind sind.
Kinder sind Ohren,
die hören,
wofür wir längst schon taub sind.
Kinder sind Seelen,
die spüren,
wofür wir längst schon stumpf sind.
Kinder sind Spiegel,
die zeigen,
was wir gerne verbergen.

Sonntag, 21. Oktober 2012

Ich möchte dem Wort Goethes vom Ewig-Weiblichen in aller gebotenen Bescheidenheit das Ewig-Kindliche beigesellen, ohne das der Mensch aufhört, Mensch zu sein.


Das kann einen schon etwas sprachlos machen, auf welch geniale Weise Michael Ende in seiner Rede Über das Ewig-Kindliche, gehalten in Tokio am 19. August 1980, auf den Punkt bringt, was im Anschluss an ihn in Bezug darauf, was das Wesentliche des inneren Kindes ausmacht, viele Psychologen kaum so überzeugend hinbekommen haben. 
In seinen Worten klingt das Wissen um den puer aeternus, jenes Kind - es ist genauso eine puella aeterna, das seit Urzeiten die Triebfeder der Menschen ist, an, es klingt an das Wissen um das Land der Phantasie, den Raum der Kunst, das Wissen um ein zielgerichtetes Leben durch Absichtslosigkeit, ohne das alles es kein wahres Menschsein gibt.
Deshalb schreibt er auch in seinem Kurzen Nachwort im Anschluss an Momo, dass er auf einer großen Reise (!) war, als ihm die Geschichte über dieses Kind, von dem der Roman handelt, erzählt wurde, und zwar von einem merkwürdigen Passagier in einem Eisenbahnabteil.

Merkwürdig insofern, als es mir völlig unmöglich war, sein Alter zu bestimmen. Anfangs glaubte ich, einem Greis gegenüberzusitzen, doch bald sah ich, dass ich mich getäuscht haben musste, denn mein Mitreisender erschien mir plötzlich sehr jung. Doch auch dieser Eindruck erwies sich bald wieder als Irrtum. Jedenfalls erzählte er mir während der langen Nachtfahrt diese ganze Geschichte. Nachdem er damit zu Ende war, schwiegen wir beide ein Weilchen. Dann fügte der rätselhafte Passagier noch einen Satz hinzu, den ich dem Leser nicht vorenthalten darf. »Ich habe Ihnen das alles erzählt«, sagte er nämlich, »als sei es bereits geschehen. Ich hätte es auch so erzählen können, als geschehe es erst in der Zukunft. Für mich ist das kein so großer Unterschied.« Er muss dann wohl an der nächsten Station ausgestiegen sein, denn ich bemerkte nach einer Weile, dass ich allein im Abteil war.

Dieser Mitreisende ist zeitlos; das betrifft nicht nur sein biologisches Alter, denn dieser Reisende kann eben Kind sein, wenn er will, auch Greis, je nachdem :-)) 
Wer will, trifft ihn oder traf ihn, zu allen Zeiten. Aber dazu muss man das Kind in sich bewahrt haben, sonst wird das nicht geschehen.
Wie gesagt, dieses Kind ist das ewige Kind in uns, es ist ewig, weil es in allen Menschen ist und uns begleiten will durch alle Leben.
Michael Ende weiß darum, wie Du gleich lesen kannst:

(...)  im Grunde schreibe ich überhaupt nicht für Kinder. Ich meine damit, dass ich während der Arbeit niemals an Kinder denke, mir niemals überlege, wie ich mich etwa ausdrücken muss, damit Kinder mich verstehen, niemals einen Stoff auswähle oder verwerfe, weil er für Kinder geeignet oder nicht geeignet ist. Bestenfalls könnte ich noch sagen: Ich schreibe die Bücher, die ich als Kind gerne selbst gelesen hätte. Diese Formulierung hört sich hübsch an, aber sie trifft nicht ganz die Wahrheit, denn ich schreibe auch nicht aus einer Erinnerung oder Rückbesinnung an meine eigene Jugend. Das Kind, das ich einmal war, lebt noch heute in mir, es gibt keinen Abgrund des Erwachsenwerdens, der mich von ihm trennt, im Grunde fühle ich mich als der Gleiche, der ich damals war. An dieser Stelle sehe ich vor meinem inneren Auge so manchen Psychologen bedenklich die Stirn runzeln und murmeln: Er ist eben nie wirklich erwachsen geworden. Das gilt ja heutzutage als schwerwiegender Fehler. Nun, sei's drum, ich gebe es zu, ich bin wohl tatsächlich nie so richtig erwachsen geworden. Ich habe mich mein Leben lang dagegen gewehrt, das zu werden, was man heutzutage einen richtigen Erwachsenen nennt, nämlich jenes Krüppelwesen, das in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Und ich berufe mich dabei auf das Wort eines großen französischen Dichters: Wenn wir ganz und gar aufgehört haben, Kinder zu sein, dann sind wir schon tot. Ich glaube, dass in jedem Menschen, der noch nicht ganz banal, noch nicht ganz unschöpferisch geworden ist, dieses Kind lebt. Ich glaube, dass die großen Philosophen und Denker nichts anderes getan haben, als sich die uralten Kinderfragen neu zu stellen: Woher komme ich? Warum bin ich auf der Welt? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Ich glaube, dass die Werke der großen Dichter, Künstler und Musiker dem Spiel des ewigen und göttlichen Kindes in ihnen entstammen; dieses Kind, das ganz unabhängig vom äußeren Alter in uns lebt, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig; dieses Kind, das nie die Fähigkeit verliert zu staunen, zu fragen, sich zu begeistern; dieses Kind in uns, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft; dieses Kind in uns, das bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft bedeutet. 
Wenn es mir erlaubt ist, so möchte ich dem Wort Goethes vom Ewig-Weiblichen in aller gebotenen Bescheidenheit das Ewig-Kindliche beigesellen, ohne das der Mensch aufhört, Mensch zu sein. Für dieses Kind in mir und in uns allen erzähle ich meine Geschichten, denn wofür sonst lohnte es sich überhaupt, etwas zu tun? Es sind also durchaus keine pädagogischen oder didaktischen Absichten, die mich bei meiner Arbeit leiten. 
(...) Die wahre, eigentliche Triebfeder, die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und absichtslosen Spiel der Phantasie. Für mich ist die Arbeit an einem Buch immer von neuem eine Reise, deren Ziel ich nicht kenne, ein Abenteuer, das mich vor Schwierigkeiten stellt, die ich vorher nicht kannte, durch das Erlebnisse, Gedanken, Einfälle, in mir hervorgerufen werden, von denen ich nichts wusste - ein Abenteuer, an dessen Ende ich selber ein anderer geworden bin als der, der ich zu Anfang war. Ein solches Spiel kann man nur absichtslos treiben, denn wer vorher schon wissen oder planen will, wohin ein solches Abenteuer einen führt, der verhindert damit schon, dass es dazu kommt.

Tja, es kann schon sein, dass nur Kinder oder Erwachsene mit einem lebendigen inneren Kind diesen Mut aufbringen, absichtslos zu schreiben, zu leben, zu sein ...
... und dadurch unendlich zielgerichtet ...
... weil sie  gerade dadurch aus der Quelle des Kindes schöpfen, also aus der Quelle unseres wahren Seins ...


Beide Texte aus Michael Ende, Momo. Schulausgabe mit Materialien. Stuttgart/Wien 2005

Sonntag, 2. September 2012

"Junge, das schaffst Du schon!"

Heute, Sonntag, 2. September ist Jesco von Puttkamer zu Gast auf Bayern I - ich höre gerade zu -, ein genialer, interessanter Mann, mittleweile 79 Jahre alt, erfolgreicher Buchautor und ehemaliger Mitarbeiter Wernher von Brauns, Leiter einer NASA-Planungsgruppe zur permanenten Erschließung des Alls und Mitarbeiter am Apollo-Programm, am Space Shuttle, Skylab und der Raumstation ISS und nun auch mit verantwortlich für die NASA-Mars-Mission; täglich geht er noch zur Arbeit! Übrigens war er auch technischer Berater für Star Trek - Der Film und Raumschiff Enterprise.

Den Gästen der Sendung Blaue Couch werden ja auch immer Fragen gestellt, genauer, der Anfang eines Satzes vorgegeben, den sie fortsetzen sollen.

Für Jesco von Puttkamer lautete ein Satzanfang:

Meine Mutter sagte immer ...


und Puttkamer sagte, was seine Mutter ihm mitgab:


... Junge, das schaffst Du schon!


Was für eine Mutter!

Was für ein Lebensprogramm, das sie in ihren Jungen pflanzte.
Wenn man an gegenteilige Beispiele denkt und wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, weil mit ihnen selbst so umgegangen worden ist ... meine Güte ... davon erzählt ja auch immer wieder dieses Blog, nicht, um das Negative zu verstärken, sondern um sich der eigenen Programme bewusst zu werden. Es sind keine Programme für die Ewigkeit - ich glaube an die Veränderbarkeit, an die Heilkraft der Seele.

Wichtig ist deshalb zu wissen, dass in einer Ecke unseres Herzens, auch wenn wir anderes erlebt haben, etwas lebt, was sich entfalten kann, was stärker ist als alle negativen Erlebnisse.
Ich glaube an die Kraft einer solchen Heilung. Und immer, wenn man solchen Geschichten, solchen Menschen wie von Puttkamer zuhört, bekommt diese Pflanze Kraft. – Deshalb gehen auch die allermeisten Märchen gut aus. Eine Mär ist eine Kunde.
Märchen künden vom Leben und seiner Kraft; aber sie verheimlichen die Prüfungen nicht!

Übrigens erzählte Puttkamer, wie er mit seiner Oma 1942 aus der Ferne, von Murnau aus, das bombadierte, brennende, rot leuchtende München sah, wie es dem Kind doch mulmig geworden sei, doch seine Oma ihm gesagt habe: Das bauen wir alles wieder auf.

Da beschloss von Puttkamer, später einmal Ziegelsteine herzustellen oder Architekt oder Ingenieur zu werden ...

Was für ein Segen, wenn Mütter so mit ihren Kindern umgehen können ...


Freitag, 20. Juli 2012

Kinder tragen leider bisweilen unbewusst die Schuld der Eltern weiter - vom lebensbestimmenden Erbe der Eltern. – Kafkas aufschlussreiche Kurzgesschichte "Heimkehr"

Vor einigen Jahren musste ich eine Abiturprüfung miterleben, in welcher der Prüfungsvorsitzende, der in aller Regel von einer anderen Schule kommt, ziemlich häufig - bis zu einem gewissen Grad ist ihm das erlaubt - in die Prüfung fragend eingriff. Die meisten tun das sehr sensibel und erst gegen Ende der Prüfung, um das Gespräch zwischen dem Lehrer, den der Prüfling kennt, sich entwickeln zu lassen. Dieser aber tat das schon nach kurzer Zeit und brachte dadurch den jungen Mann, der da geprüft wurde, ziemlich aus dem Konzept.
Nach der Prüfung kam der Abiturient zu mir und bedauerte, dass er nicht habe besser sein können.
Für mich war diese Aussage schlimmer als der Prüfungsverlauf selbst, die Tatsache nämlich, dass der junge Mann das unsensible und unangemessene Prüfungsverhalten des Vorsitzenden im Grunde sich zur Last legte. Dabei ging der ungünstige Verlauf für mich klar zu Lasten des Vorsitzenden; der Junge musste von vornherein kämpfen und kam nie zum freien, vertrauensvollen Sprechen. Soweit mir das möglich war, habe ich ihm Hinweise gegeben, damit er seine Leistung richtig einschätzen konnte.

Dieses Geschehen steht beispielhaft für unsensibles und seelisch belastendes Verhalten von Erwachsenen in seinen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Letztere können aufgrund ihrer fehlenden Lebenserfahrung das Verhalten der Erwachsenen zumeist nicht einschätzen. Zudem will ihre Seele vor allem in jungen Jahren den inneren Erwachsenen in sich ausbilden und die nächsten Anverwandten sind Vorbild und oft absoluter Maßstab.

Kafkas Kurzgeschichte Heimkehr zeigt beispielhaft auf, welche Auswirkungen solches Erwachsenenverhalten hat und wie fatal die Folgen sind. Hier zunächst die Kurzgeschichte selbst:

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Als brutal empfinde ich die innere Wirklichkeit des Sohnes, wie sie sich ausgebildet hat. In seinem Verhalten spiegelt sich die Distanz des Vaters zu ihm. Er, der Sohn, verhält sich nun genauso. Er traut sich nicht heran, wagt nicht zu klopfen, mehrfach taucht das von der Ferne auf.
Das ist schon schlimm genug.
Das Schlimmste aber kommt zum Schluss:
Sein Inneres nimmt wahr, dass die in der Küche Sitzenden, vermutlich seine Eltern, ein Geheimnis haben, ein Geheimnis vor ihm haben, das sie wahren wollen. 
Was er als Geheimnis wertet, ist die Kälte seiner Eltern, die ihn nicht an sie herankommen lässt.
Nun aber finden wir, was in vergleichbarer Weise auch in meinem einleitend geschilderten Erlebnis zum Ausdruck kommt:
Auf einmal übernimmt der Sohn und redet von seinem eigenen Geheimnis. 
Und mit welcher Selbstverständlichkeit er das tut!
Wie er auf einmal sich das Verhalten der Eltern zu eigen macht ... dass er sich womöglich genauso verhalten könnte mit seinem Geheimnis, das eben das vermachte Geheimnis der Eltern ist.
Gewiss gibt es da einen Konjunktiv II, das wäre - aber jeder spürt, er, der Konjunktiv II transportiert hier keine Nicht-Wirklichkeit, sondern ziemlich sicher eine zukünftige Realität des Sohnes.

Eine Schuld der Eltern, von der ich in der Überschrift gesprochen habe, ist es nur, wenn sie ein Bewusstsein ihres Verhaltens haben und es dennoch weitergeben. Ansonsten ist es ihr Erbe. 
Das seelische ist ja viel lebensbestimmender als das materielle.

Kein Kind, das vertrauensvoll sich seinen Eltern und dem Leben anvertrauen konnte, hat ein Geheimnis vor ihnen. Gewiss muss auch ein erwachsen werdendes Kind seinen Eltern nicht alles gesagt haben, schließlich wird es erwachsen und entscheidet selbst, was es sagt und was nicht. Zudem gibt es schließlich oft einen Lebenspartner, dem man alles anvertraut ... wenn es gut geht.
Nur hier ist offensichtlich: Dieser Sohn hat ein Geheimnis, das dem der Eltern korrespondiert. Nie steht für ihn zur Debatte, ob er es wirklich hat. Er hat es, weil seine Eltern ihm ihr Geheimnis ständig vorleben, jene Kälte, hinter der keine Wärme kommt, jene Kälte, die man besser nicht durchbricht, weil dort nichts ist, sich auch im Leben der Eltern nicht bilden konnte; schließlich sind auch sie nur ein Opfer ihrer Eltern, wie diese selbst ...
Das ist das Traumatische, dass Kinder etwas übernehmen, für das sie nicht verantwortlich sind.

Irgendjemand muss es ihnen sagen oder: Mögen sie es selbst erkennen.
Heute besteht dazu eher die Möglichkeit als früher.

Kafka allerdings ist an Elternkälte recht früh gestorben.
Immer wieder ziehen in Märchen die Helden aus, um z.B. den Vater, den inneren Vater zu heilen, denken wir an das Märchen vom Wasser des Lebens. Nicht immer gelingt das aufs Erste. Tröstlich aber, dass uns die Märchen sagen: Auf Dauer wird alles gut.

Einen weiteren Aspekt zu Kafkas Heimkehr: hier

Sonntag, 17. Juni 2012

Das Ausmaß der eigenen Verletztheit erkennen – Wenn Eltern mit ihren Kindern lernen ...

Tatsächlich ist es möglich, das Ausmaß der eigenen Verletzung und Verletztheit zu erkennen - an der eigenen Reaktion, dem eigenen Verhalten. Für den Betroffenen, den Gegenüber, aber auch für den, der sein eigenes Verhalten anschauen muss, ist das keine einfache Sache. Vor allem dann, wenn das Gegenüber das eigene Kind - oder überhaupt ein Kind - ist.

So geschehen mir mit meiner Tochter.

Es war die Zeit, als sie die Anfangsklassen des Gymnasiums besuchte - ein humanistisches Gymnasium -, Latein lernte und die Wochenenden immer bei ihrem Papa verbrachte.
Nicht nur in Latein, auch in Deutsch lernte natürlich der Papa als Lehrer ab und zu mit seiner Tochter (wobei ich mich glücklich schätzen konnte und kann, dass ich eine sehr zielstrebige Tochter habe, die gern lernte und lernt und auch von sich aus vorankommen will - etwas, was nicht allen Eltern so geht, wie ich aus manchem Gespräch mit leidgeprüften Eltern in Rahmen der schulischen Sprechstunde weiß ...).
Jedenfalls stellte ich fest, dass bei unserem Lernen am Wochenende der Papa immer wieder genervt war. Natürlich war es so, dass ich auch am Wochenende korrigieren musste und von der Woche schon erschöpft war. Das hätte mir als Begründung für mein Verhalten dienen können; wenn ich mir das als Grund oft genug gesagt hätte, hätte ich am Ende irgendwann selbst auch geglaubt, dass das der eigentliche Gund sei. Aber innerlich wusste ich genau, dass das nicht ausschlaggebend sein konnte. Es war auch so, dass ich in der Schule mich keinem Schüler gegenüber auch nur annähernd so blöd und ungeduldig verhielt wie gegenüber meiner Tochter. Da fielen dann so Bemerkungen wie "Sag mal, kapierst Du das denn nicht" oder "Das gibt´s doch nicht, dass ...".
Auffallend war, dass ich mich selbst unmöglich fand. Dass ich mich innerlich aufforderte, geduldiger zu sein, dass ich mir klarzumachen versuchte, dass meine Tochter das nun wirklich nicht unbedingt verstanden haben muss ...
Was mir damals noch nicht so klar war wie heute, war, dass, wenn ich anfing, so zu sein, so versteckt oder offen vorwurfsvoll, so lehrerhaft, meine Tochter dann nicht mehr verstehen konnte. Stress desintegriert einfach das Gehirn, schließt die Synapsen, schaltet ganze Gehirnareale ab.
Von dem Herzen, das blockiert ist, ganz abgesehen.
Ich weiß noch, es ist mittlerweile annähernd 12 Jahre her, dass mir meine Tochter leid tat, weil ich beobachtete, wie tapfer sie war, wie sie meine üble Laune und mein saublödes Verhalten wegsteckte ...
Wenn wir dann das Lernen beendeten, war ich total erschöpft und mein Kind muss innerlich todtraurig gewesen sein, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ.
Als dieses "gemeinsame" Lernen wiederholt so ablief, dass relativ schnell mein Ton sich steigerte, meine Ungeduld, meine Vorwürfe, weiß ich noch, dass ich selbst nicht mehr mit meiner Tochter lernen wollte, weil es mir selbst leid tat, wie blöd ich mich verhielt, weil meine Tochter mir leid tat. Ich sagte, dass auch zu ihr, dass es mir lieber wäre, wenn wir nicht mehr zusammen lernen, es sei ja auch wirklich nicht zwingend, weil sie auch so gut mitkam. Aber sie wollte nicht darauf verzichten.
Ich erinnere mich auch noch, dass ich mich bei ihr entschuldigte für mein Verhalten, ich glaube, mindestens zweimal. Mein Töchterchen reagierte darauf verhalten, nicht ablehnend mir gegenüber, aber ein wenig so, als ob das schon in Ordnung sei - das lag sicherlich auch an ihrer familiären Situation; ein Trennungskind will eben halt weder Vater noch Mutter verlieren, zudem verstanden wir uns ansonsten bestens ...
Jedesmal, wenn wir neu starteten, nahm ich mir auch vor und sagte zu mir: Johannes, jetzt bist Du geduldig und lieb und wirst nicht ungeduldig, nicht vorwurfsvoll, nicht ausfallend.
Nicht, dass ich wirklich laut geworden wäre oder richtig ausfallend, aber eben dringlicher, pressend, in der Stimme eindeutig vorwurfsvoll, ungeduldig, auch vorwurfsvoll mit Worten, auch so blöd indirekt wie: Sag mal, habt ihr das denn nicht besprochen ...
Saublöd also.
Damals war mir nicht wirklich klar, was ablief. Ich hatte nur Gott sei Dank die Fähigkeit, dass ich mich wie von außen beobachtete und dass ich mich selbst wenig positiv beurteilte ...
Vielleicht lag es genau an diesem Beurteilen, dass ich nicht damals schon darauf kam, was ablief. Vielleicht fehlten mir einfach auch meine Kenntnisse in Bezug auf das innere Kind und meine eigenen Verletzungen.

Heute sehe ich an meinem Verhalten im Nachhinein, wie sehr ich in meiner Kindheit selbst verletzt worden sein muss. Dass ich zum Teil unmögliche Lehrer hatte, das war mir bewusst. Zum Teil waren es Lehrer, die im Krieg gewesen waren und denen man das anspürte oder sogar ansah: Einer hatte ein zerschossenes Handgelenk und konnte seine Hand, die immer schwarz bandagiert war, nur gekrümmt halten, einer hatte ein Holzbein, was wir endgültig herausbekamen, indem ein Klassenkamerad seinen Zirkel mit der Spitze voran gegen sein Bein warf. Als er nicht schmerzhaft zusammenzuckte, wussten wir: ja, tatsächlich, ein Holzbein.
Ich erinnere mich auch noch an einen Griechisch-Lehrer, vor dessen Stunden einige fast regelmäßig weinten oder vor Angst zitterten: ein echt fieser Typ, übrigens sehr religiös und Bruder im Herrn ... mein Vater, der ihm auf eine andere Weise in nichts nachstand, kannte ihn auch von diesen Stunden her ... meiner Angst konnte das keinen Abbruch tun ...

Gewiss kamen meine Verletzungen auch durch meine Lehrer.
Aber sie müssen vor allem durch mein Zuhause gekommen sein.
Mittlerweile ist mir ja manches in Bezug auf mein Elternhaus und vor allem auch das Verhalten meines Vaters klargeworden.
Was mir aber vor allem klar geworden ist: wie tief die Verletzungen von mir gewesen sein müssen, dass ich mich selbst so gegenüber meinem Kind verhielt.
Und das, obwohl ich mich so nicht verhalten wollte.
Obwohl ich mir meines Verhaltens bewusst war, konnte ich den Mechanismus nicht abstellen, der da regelmäßig ablief. Gut, mit der Zeit wurde es besser, aber über relativ lange Zeit bekam ich mein Verhalten nicht in den Griff.
Wobei ich diese Formulierung "in den Griff bekommen" eh schrecklich finde.

Meine Kindheit habe ich nicht einmal krass in der Erinnerung. Das hat im Grunde kein Kind. Zuhause ist Zuhause. Mutter ist Mutter, und Vater ist Vater. Die liebt man als Kind. Ich z.B. habe meinen Vater geliebt. Für mich war das auch korrekt, was er machte. Für ein Kind ist der Vater wie ein göttliches Wesen. Es bedarf schon sehr sehr viel, dass diese Beinahe-Göttlichkeit fundamental erschüttert werden kann; in der Pubertät dann schon, vorher aber kaum.
Da steckt man alle Verletzungen weg, man ist ja tatsächlich schuld, man versteht nicht, man ist ja tatsächlich blöd, tatsächlich kapieren es ja alle anderen, nur man selbst nicht; da haben Papa und Mama schon Recht ...

Nur an meinen Verhalten gegenüber meinem Kind kann ich die Dimensionen meines eigenen Verletztseins im Nachhinein erkennen!
Ich muss gewaltig verletzt gewesen sein, dass sich dieses verletzte innere Kind, sobald es angestupft wurde durch diese Situation "Vater und Kind lernen zu Hause, gemeinsam am Tisch sitzend" berührt wurde; dann wurde ich zu meinem Vater, machte mein Kind zu dem kleinen Johannes, der nicht weinte, nicht weinen durfte, alles über sich ergehen ließ ...
Das schmerzt, in erster Linie schmerzt es mich heute für meine Tochter; aber ich spüre auch den Schmerz des 11-jährigen Johannes.

Gott sei Dank spüre ich ihn und ich sehe mich heute in unserem Wohnzimmer in der Ortenbergerstraße in Frankfurt sitzen ... mit meinem Vater, der so viel selbst nicht blickte, und sehe den Johannes, der dabei hockte und hoffte, dass ihm sein blockierter Vater über die eigenen durch diesen bedingten Blockaden hinweghelfen würde ...
... was für eine traumatische Situation ...

Mittwoch, 30. Mai 2012

Den grollenden, unversöhnlichen inneren Kindern das Zepter ihres Regiments aus der Hand nehmen!

Den folgenden Beitrag aus der EthikPost möchte ich auch meinen Lesern hier übermitteln, denn er betrifft auch unsere inneren Kinder, mit denen es sich zu versöhnen gilt.
Oft haben sie Mauern von Groll und Zorn in den dunklen Gründen unserer Seele aufgebaut, um nicht ausgehoben, ja nicht einmal entdeckt zu werden.
Doch darum genau geht es, unsere inneren Groll-Gründe, unsere inneren Groll-Abgründe zu ent-decken, mit denen wir uns lange Zeit geschützt haben. Hören wir nur, wie sie schreien, jene so verletzten inneren Kinder, wenn wir ihnen die Decke wegziehen; ganz nackt liegen sie da, ohne Glauben daran, dass wir sie so, wie sie sind, liebevoll annehmen könnten. Nein, in ihrer Vorstellung gibt es das nicht, kann es das nicht geben, sonst hätten sie sich nicht so einmauern müssen. Längst haben sie ihre Eigendynamik entwickelt und bestimmen unser Sein. Wie oft fühlen wir uns doch im Unrecht und erkennen das Böse im Anderen; ja, so ist ja das Leben eben, sagen wir, um zu kaschieren, dass uns diese Sicht auf das Leben legitimiert, weiter im Frieden mit unserer Unversöhnlichkeit zu leben.
Doch genau so, wie wir es sehen wollen, ist das wirkliche Leben nicht. Das will nicht von Unversöhnlichkeit dominiert sein.
Nehmen wir unseren unversöhnlichen inneren Kindern ihr schreckliches Zepter aus der Hand.
Es geht, es gehört Mut dazu.
Die zwei Wort-Räume von Hilde Domin und Conrad Ferdinand Meyer können uns Mut geben, Versöhnung anzustreben.
Hier also der Post, der auf der EthikPost überschrieben ist:

Einen wertvolleren Kuss gibt es nicht: 
von weißen Tauben, Tränen und Versöhnung.

Man sieht es ihm nicht unbedingt an: In dem Wort Versöhnung verbirgt sich das Wort Sühne, und Sühne - ursprünglich mittelhochdeutsch suone, gleichbedeutend mit VersöhnungFrieden - bedeutet in seiner niederländischen Facette auch Kuss.

Ja, es gibt diesen Kuss der Versöhnung, des Friedens.
Von ihm ist, ohne dass er direkt angesprochen wird, in mancherlei Geschichten und Gedichten die Rede, unter anderem in Hilde Domins so eindrücklichen Gedicht

Versöhnung

Erst sah ich weiße Fahnen
und wurde blass, ich mag nicht siegen.
Doch dann glitten deine Tauben herüber,
so sanft
schicktest du die weißen Tauben
von dir zu mir,
Taube um Taube,
ich atmete kaum,
das Zimmer war weiß von ihnen.
Ich hielt die Hände hin:
schneeflockenfeucht von deinen 
Tränen
tranken sie meine Tränen.

Dieses Gedicht berührt mich umso mehr, als ich gerade über Conrad Ferdinand Meyers Die Füße im Feuer geschrieben habe, eine Ballade und ein Thema, das mich einfach sehr bewegt, denn ohne, dass wir uns selbst verzeihen, werden wir nicht wirklich ein wahrer Mensch. In dieser Ballade geschieht eine große Versöhnung, die einen unglaublich berührt. Auch in ihr gibt es eine bezeichnende Stelle, in der kaum geatmet wird, ja, sich kein Lüftchen regt; es ist jene Stelle, bevor die Stimme der Vergebung, der Versöhnung spricht.

Wirkliche Menschen werden wir nur, wenn wir uns küssen lassen von Versöhnung, wenn wir uns versöhnen mit uns selbst, wenn wir uns vergeben, wenn wir nicht ständig und heimlich unheimlich alte Schulden auftragen, die zur Folge haben, dass wir grollen, uns und anderen; nur wenn wir uns mit uns versöhnen, uns vergeben, dann ist Versöhnung mit dem Leben, der Liebe möglich.

Hilde Domin thematisiert dieses Geschehen nachdrücklich. In den Worten ihres lyrischen Ichs finden wir angesprochen, dass es nicht darum gehen kann zu siegen. Siegen ist keine Voraussetzung für wirklichen Frieden, Vergebung, Versöhnung. Denn ein anderer trüge an einer Niederlage.
Es sei denn, die Taube siegt, Symbol jenes Geistes, der in uns siegen will, damit die Liebe siegt, dann geschieht das, was im Grunde ein Wunder ist, das Wunder wahrer Vergebung.
Wenn die Taube siegt, gibt es keine Verlierer!

Wunderschön, welche Worte Hilde Domin findet, wenn sie das ganze Zimmer von Tauben weiß sein lässt, wenn sie Tränen Tränen trinken lässt.

Welche Hingabe.

Sonntag, 20. Mai 2012

An den Ort unserer Verletzungen, auch der größten zurückkehren!

Den Hinweis darauf, um was es im Folgenden geht, verdanke ich meiner besten Freundin HeideMarie Ehrke, und das ist bezeichnend für sie, für einen besten Freund oder eine beste Freundin, wenn man sie haben darf, dass sie immer weiß, intuitiv, was mir gerade gut tut, ja, was ich brauche.
So war es auch hier.
Es war ein Hinweis auf eine evangelische Morgenfeier auf Bayern1.
Durch sie ist mir etwas bewusst geworden, was ich eigentlich schon wusste, im Kopf - nun ist es ins Herz gewandert :-))
Würden doch mehr Menschen kapieren wollen, dass es Bilder in der Kunst, in der Bibel, in den Märchen, in den Mythen überhaupt gibt, die Seelenbilder sind, weil sie einen Zustand der Seele zum Ausdruck bringen, der für uns alle gilt und dessen Verstehen uns so viel weiterbringen kann auf dem Weg zu uns selbst. Solche Bilder haben eine unglaubliche Heilkraft, vor allem dann, wenn sie von Menschen erläutert werden, die den Bildern ihre Bild-Kraft nicht nehmen; dann nämlich ist Herzens-Bild-ung möglich.
Die Bibel ist voll von solchen Bildern. Schade, dass Menschen so sehr die real existierende Kirche und die Bibel in einen Topf werden.
Obwohl immer wieder auch aus dem Raum der Kirche Wertvolles kommen kann.
So war es auch hier und es hat mir sehr weitergeholfen.
Eine Pastorin, Frau Melitta Müller-Hansen, die mich schon einmal mit ihren Worten beeindruckte, sprach über die Bedeutung von Himmelfahrt. Und wenn ich im Folgenden zwei Passagen zitiere, so mögen der Bayrische Rundfunk und sie nachsichtig sein; eigentlich sind sie nur zum privaten Gebrauch bestimmt.
Gegen Ende ihrer etwas mehr als zwanzigminütigen Ausführungen, die ich wirklich empfehlen möchte - den Podcast, also die Aufnahme, die man anhören kann, habe ich hier verlinkt -, verwies sie auf einen Tatbestand, der mir neu war und der hochinteressant ist:
Rembrandt, der sein Bild Christi Himmelfahrt um 1636 malte und das erfreulicherweise in Deutschland, nämlich in der Münchner Pinakothek, betrachtet werden kann, zeichnete den Auferstehenden mit seinen Wundmalen an den Händen, jenen Wundmalen, die er am Kreuz erlitt.
Ob ihn seine Jünger so gesehen hatten? Ob sie die Wundmale gesehen haben? Die Bibel erwähnt das nicht.
Rembrandt aber sah sie, er sah sie sicherlich mit seinen inneren Augen und die Worte Melitta Müller-Hansens wissen zu vermitteln, wie wichtig es für jeden Menschen ist, dass er den zum Himmel Auffahrenden so gemalt hat.


Sie fragt: Was bedeutet es, dass ein Gekreuzigter in den Himmel eingeht und herrscht über die Mächte der Welt? Was bedeutet es, dass Wundmale Teil des Himmels werden, dass kein Unversehrter, sondern ein Gezeichneter und Geheilter den Himmel prägt? Es sagt etwas Neues über Gott und Himmel. Der Himmel weiß von den Wunden der Erde. 

Den letzten Satz finde ich eine Wucht.

Aber es kommt noch ein Punkt, der mir noch wichtiger erscheint - mit den Worten der Pastorin:

Jesus schickt die Jünger zurück nach Jerusalem. Dort werden sie die Kraft des heiligen Geistes empfangen. In Jerusalem. Hier haben die Menschen den Sohn Gottes ausgestoßen, hier haben die Jünger das Trauma von Verrat und Verfolgung erlebt. Hier sind sie weggelaufen, hier haben sie den Freund im Stich gelassen – und dahin sollen sie zurückkehren ...
An den Ort zurückzukehren, an dem man verletzt wurde, traumatisiert wurde, gehört vielleicht zum Schmerzhaftesten und Mutigsten, wozu ein Mensch in der Lage ist. Wir haben einen instinktiven Drang in uns, das zu vermeiden, so lange es geht.

Wo ist der Ort, der uns möglicherweise am meisten Schmerzen bereiten kann?
Bei vielen mag er das eigene Innere sein.
Aus diesem Jerusalem sind wir immer wieder in unserer Kindheit vertrieben worden. Manche für immer. Denn immer dann, wenn Eltern, Lehrer ... wer auch immer ... Kinder verletzen, zielen sie auf deren Inneres. Dort treffen sie die Kinder hundertprozentig. Manchmal - und zu oft - ganz bewusst.
Dann geschieht es, dass wir auf immer unser Innerstes verlassen.
Manche Kinder - und ich glaube, ich habe auch zu ihnen gehört - verlassen ihr Inneres, damit sie dort nicht mehr verletzt werden können.
Eine traurige, eine schreckliche Wahrheit.
Aber eine Kraft, die Christen als Jesus bezeichnen, schickt uns zurück in unser Inneres, an den Ort unserer Verzweiflungen, unserer Niederlagen, an den Ort unserer tiefsten Verletzungen.
Nur hier empfangen wir einen Geist, der heilen kann, die Bibel nennt ihn den Heiligen Geist, nichts anderes ist er, als der Geist der Liebe, der Liebe zu uns selbst.
Nur hier ist Heilung möglich.
Und wer es so religiös nicht brauchen kann, der mag es säkularer ausdrücken, psychologisch, wie auch immer - die Tatsache bleibt die gleiche: 
Wenn wir heil werden wollen, schickt uns eine Kraft nach innen und sagt: 
Warte da, sei mutig, sei stark, auch wenn Du hier einstmals schwach, vielleicht auch feige gewesen bist, so tief verletzt worden bist.
Niemand muss sich retuschieren, die Wunden müssen nicht schönheitsoperiert, kosmetisiert sein. 
Sie geben Zeugnis im Himmel von unseren Kämpfen. Der Himmel aber ist in uns.
Wo sonst?
Deshalb sind die Wundmale, die Rembrandt gemalt hat, so wichtig.
Jesus bekennt sich zu ihnen.
Nichts anderes heißt das als: Sie sind uns willkommen.
Sie haben uns zurück an diesen Ort geführt.

Bevor Jesus den Blicken entschwindet, sagt er den Jüngern, sie sollten nach Jerusalem zurückkehren, in die Stadt, die auch für seinen Tod steht, für ihre Angst. Wie verkrochen sie sich doch, als Jesus vom Kreuz genommen worden war. Nur Frauen hatten Mut, zum Grab Jesu zu gehen. Die Jünger waren zu feige. Selbst die Römer hatten seine Aussage, dass er auferstehen werde, ernster genommen und sein Grab bewachen lassen.
Zurück an den Ort der Niederlage, das war Jesu Gebot. Dort - und ich darf hinzufügen: nur dort - würden sie den Heiligen Geist empfangen.
Was mir auf dem Hintergrund dieser evangelischen Morgenfeier bewusst geworden ist:
Deshalb ist es so schwer, ins eigene Innere zurückzukehren, weil er ein Ort der Niederlage ist, ein Ort der Verletzung, ein Ort vieler Kindheitstraumen, die oft irreparabel erscheinen, der Verlust bedeutet, Verlust von Heimat und Geborgenheit.
Wir dürfen unsere Wunden zeigen. Im Himmel sind sie willkommen. In uns.

An diesen Ort genau schickt Jesus seine Jünger und dahin genau müssen auch wir gehen, wenn wir Heilung finden wollen, was immer uns da begegnet, an was immer wir da erinnert werden.
Es findet kein Jüngstes Gericht statt. Es findet Heilung statt.

Unsere Verletzungen sind die Eintrittskarte zu unserem Inneren.


Sonntag, 8. April 2012

Über den Zauber des inneren Kindes und seine Heilkraft durch literarische Bilder, zum Beispiel Goethes "Novelle"


Wussten Sie, dass unser inneres Kind ein Meister des Feuerelementes sein und ihm die Kraft des Löwen zur Verfügung stehen kann?
Auch Ihrem inneren Kind?!
Wenn nicht, sollten Sie Johann Wolfgang von Goethes Novelle lesen, in der Reclam-Ausgabe gerade mal 27 Seiten lang und außerdem auf Gutenberg zu finden.
Da steht alles drin. Und dazu gleich mehr. Vorab noch drei Bemerkungen:

In der Literatur finden sich immer wieder Beispiele der Ausgestaltung innerer Kinder. Oft sind es handelnde Personen, sozusagen literarisch reale Kinder, die aber Merkmale dessen tragen, was innere Kinder zeigen, wenn sie unverletzt sind oder ihre Verletzungen geheilt haben oder auf dem Weg dazu sind.
Solche Ausgestaltungen finden wir im ganz und gar Positiven in der Gestalt von Michael Endes Momo und in der Gestalt des ein oder anderen Märchenhelden. Für eine Ausgestaltung im Negativen habe ich das im Hinblick auf Bertolt Brechts Von der Freundlichkeit der Welt aufgezeigt. 
Es gibt weitere Beispiele, die anhand der Reaktion auf ein intaktes inneres Kind zeigen, dass keine Empfänglichkeit für den Stoff da ist, weil seine tiefere Bedeutung nicht annähernd erfasst wird, erfasst werden kann.
Das gilt für Gottfried Benn, der im Hinblick auf den Inhalt von Goethes Novelle kommentiert:
... wirkt das nicht alles wie Karikatur? Betrachten Sie das Ganze: wilde Tiere brechen aus einer Menagerie aus, und alles verläuft harmonisch! Das Säuseln eines Knaben besänftigt die Natur. Gewiß, das Erhabene sieht alles vereint und weiß für alles Auswege, aber ist das nicht einfach hier: Bequemlichkeit? Führt das nicht zurück auf eine Stufe, die wohl einmal war, vielleicht aber für uns verloren ist, warum hexen und zaubern und Alterssprüche vom Stapel lassen, daß es anders sei?
Nein, Gottfried Benn hat keine Antenne für diesen Stoff, er kann alles nur mehr oder weniger als infantile Regression deuten; wenn wir seine Texte lesen, ahnen wir auch, warum; deshalb kann dieser Text, kann die Novelle bei ihm  auch gewiss nicht ihre Heilkraft entfalten, denn - und das ist mein zweiter Punkt: 
Es gibt Geschichten, Märchen, Texte, die heilsam sind. Und zwar heilen sie nicht dadurch, dass man über sie nachdenkt, sondern sie heilen durch ihre Bilder. Diese wirken unmittelbar auf das Unbewusste, und wenn sich der Verstand dazwischenschaltet, kann es sein, dass dieser deren Wirkkraft blockiert; das muss nicht sein, aber bei Gottfried Benn und anderen ist es offensichtlich so.
Bilder, wie sie in Momo und in der Novelle oder auch in Novalis´ Heinrich von Ofterdingen vorkommen, wirken durch ihre bild-ende Kraft; ja, in der Tat: Bildung ist als Wort abgeleitet von dem Wort Bild und tatsächlich ist es so: Bilder bilden!
Der Verstand kann das bei weitem nicht so effektiv, insbesondere nicht, was die Bildung unserer Seele ausmacht.
Wenn Sie von daher Äußerungen Benns zu Krankheit und Siechtum in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke oder zum Thema Liebe in Nachtcafé lesen und auf die Bilder achten, dann wissen Sie, warum die Bilder der Novelle in diesem Mann nur schwerlich wirken können.

Wie gesagt, sie können heilen. In einer tiefen Krise in meinem Leben habe ich abends einfach manchmal ein Grimm-Märchen gelesen, wahlllos, einfach eines der großen, sei es Aschenputtel oder Dornröschen oder Rapunzel. - Danach kann man wie getröstet einschlafen.

Die dritte Bemerkung bezieht sich auf den Umstand, dass die Novelle - diese Bezeichnung war Goethe als Titel genug, sie war für ihn einfach die Bezeichnung für eine unerhörte Begebenheit - in Goethe wie eine Frucht reifte, über 30 Jahre hin. 1797 entwirft er den Plan zu einem epischen Gedicht, genannt "Die Jagd" und erwähnt es gegenüber Schiller und Wilhelm von Humboldt. Doch es dauert fast 30 Jahre, bis er es ausführt, dann als Prosatext, der mit dem Lied des Kindes endet, nachdem jenes - bezeichnenderweise erfahren wir seinen Namen nicht - den Löwen nicht besiegte, sondern sich ihm näherte wie einem Freund - kein Wunder, war doch auch der Löwe ein Teil von ihm.
Die letzte Strophe lautet:

      Und so geht mit guten Kindern
      Sel´ger Engel gern zu Rat,
      Böses Wollen zu verhindern,
      Zu befördern schöne Tat.
      So beschwören, fest zu bannen
      Liebem Sohn ans zarte Knie
      Ihn, des Waldes Hochtyrannen,
      Frommer Sinn und Melodie.

Die Handlung spielt in einem Fürstentum und zweifelsohne ist der Fürst ein aufgeklärter, wie man jene bezeichnet, die nicht mehr im Stile eines absoluten Herrschers regierten, sondern zum Wohle ihres Volkes. Dennoch aber zeigt sich innerlich Unaufgearbeitetes in ihm, wenn es heißt, dass er sich vorgenommen hatte, mittels einer Jagd "die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen."
Als die Jagdgesellschaft gerade aufgebrochen war, bricht im Dorf ein Feuer aus, in dessen Folge Tiere einer Schaustellertruppe ausbrechen, ein Tiger und ein Löwe.
Die Gemahlin des Fürsten war nicht mit zur Jagd gekommen, sondern war mit dem Oheim des Fürsten und Honorio, einem Junker, den der Fürst zu ihrer Begleitung und als dienstbaren Boten zur Seite gegeben hatte, unterwegs in Richtung der alten Stammburg; sie befanden sich auf halber Bergeshöhe, als sie des Feuers gewahr wurden, das, wie sie aus der Ferne wahrnahmen, auf dem Marktplatz ausgebrochen war und sie zur Umkehr veranlasste. Der Fürst-Oheim war schon vorausgeritten, als die Fürstin in Begleitung Honorios den Tiger wahrnimmt, der sich auf sie zubewegt. 
In wenigen Zeilen gelingt es Goethe, die Dramatik der Szene vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen. Honorio gelingt es, mit einem Schuss den Tiger zu erlegen, ein Geschehen, das sich im Nachhinein als nicht notwendig herausstellen sollte, denn der Tiger war zahm.
Mag sein, dass Honorio das nicht erkennen konnte, mag aber auch sein, dass er vor der Fürstin zu gern Held sein wollte; jedenfalls sprengte er in unnachahmlicher Manier heran und mit seiner zweiten Pistole gelang es ihm, den Tiger zur Strecke zu springen. Auf ihm kniend empfängt er den Dank der Fürstin und spricht davon, dass er sich vorstelle, wie das Fell des Tigers die Fürstin  zur Lust bekleidet - "begleitet", schreibt Goethe.

Vor allem im Alterswerk Goethes ist alles hochsymbolisch, und so hat natürlich auch das Feuerelement, das hier im Dorf verrückt spielt, eine Bedeutung. Sicherlich steht es im Zusammenhang mit dem Feuer der Unruhe, das der Fürst absichtsvoll in die Wälder tragen wll, um die dortigen Tiere aufzuschrecken und zur Strecke zu bringen, es hat aber vor allem mit der Leidenschaft zu tun, die in jenem jungen Edelmann zur Gattin des Fürsten auflodert.
Selbst in der verhaltenen Darstellung, die wir im Alterswerk Goethes finden, wird klar, dass es in diesem jungen Mann lichterloh brennt und die Fürstin dies durchaus auch wahrnimmt.

Hier kann nicht darauf eingegangen werden, wie wertvoll es ist, sich die Reaktion der Fürstin und auch des jungen Mannes zu Gemüte zu führen; sie fallen nämlich nicht in Dschungelcampmanier übereinander her, sondern er akzeptiert, dass die Fürstin verheiratet und nicht zu haben ist, und sie bittet ihn aufzustehen, nicht auf den Knien zu bleiben, eine Haltung, die suggerieren könnte, dass er um ihre Gunst und Zuneigung bittet. 
Der junge Mann löst die Situation, indem er kniend darum bittet, auf eine Reise gehen zu dürfen.
Es will also nicht geschehen, was Goethes Werther nicht schaffte, sich nämlich von seiner an Albert vergebenen Lotte zu lösen, obwohl er eigentlich schon Abschied genommen hatte, was seinen Tod und Lottes tiefen Schmerz zur Folge hatte, sondern Honorio ist bereit zu entsagen, zu verzichten:
ein Aspekt, der gerade in unserer heutigen Zeit ganz und gar in Vergessenheit geraten zu sein scheint und doch für die seelische Bildung unverzichtbar ist.

Was beide zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, ist, dass auch der Löwe ausgebrochen ist und sich in der alten, zum Teil verfallenen Stammburg befindet, die oberhalb des Dorfes auf einem Bergrücken liegt.
Der Fürst, mit seinem Jagdgefolge inzwischen zurückgekehrt, weil auch er den Brand wahrgenommen hatte, erfährt, dass auch der Löwe los ist und lässt die Gewehre laden. Doch ein Mann bittet um das Leben des Löwen; er stellt sich als Vater innerhalb der Schaustellerfamilie heraus, die im Dorf verweilte, als das Feuer ausbrach, die miterleben musste, dass schon ihr Tiger getötet worden war und die nun händeringend um das Leben ihres Löwen fleht.
Er bietet sich an den Löwenkäfig zu holen und spricht, indem er auf seine Frau uns ein Kind verweist:
"Hier diese Frau und dieses Kind (...) erbieten sich, ihn zu zähmen, ihn ruhig zu erhalten, bis ich den beschlagenen Kasten heraufschaffe, da wir ihn denn unschädlich und unbeschädigt wieder zurückbringen werden«.
Das Kind beginnt nun, auf einer Flöte zu spielen, und es heißt:
"Das Kind verfolgte seine Melodie, die keine war, eine Tonfolge ohne Gesetz, und vielleicht eben deswegen so herzergreifend; die Umstehenden schienen wie bezaubert von der Bewegung einer liederartigen Weise (...)".
Ja, es war eine Melodie ohne Gesetz, aber aus dem Herzen; sie folgte sozusagen den Gesetzen des Herzens.
Seltsamerweise und auffallend ist, dass ein Wächter, der oben auf der Burg sich befunden hatte und nun herangelaufen kommt, berichtet, der Löwe liege auf der Burg im Sonnenschein.

Das allerdings ist kein Zufall. In der astrologischen Symbolik ist der Löwe dem Feuerelement zugeordnet und der Löwe als Feuerzeichen beherrscht den Planeten Sonne. Dieser Symbolik war sich Goethe, der mt dem Wissen des Paracelsus höchst vertraut war, bewusst, und es entsprach auch seinem Denken.
Aber es ist dies kein spezifisch paracelsisch-goethesches Denken, sondern entspricht tiefem inneren Menschheitswissen, denken wir nur daran, dass die Taten des Herakles alle den astrologischen Symbolen im Zodiakus, im Tierkreis zuzuordnen sind, eine Tatsache, die die Mythenforschung weitgehend ignoriert.
Klar hört das nicht gern, wer Astrologie als pure Scharlatanerie abtut, obwohl Keppler, Goethe und nicht wenige andere ihr durchaus große Bedeutung zumaßen.

Um die Bedeutung von Sonne, Feuer und Löwe in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, muss noch einmal herausgehoben sein, dass der Löwe sich auf der alten Stammburg aufhält, einer Burg, die, bis auf einen Weg, der freigelegt worden war, keinen weiteren Zugang mehr besaß. Im Verlauf der Novelle wird sie in mehreren Zusammenhängen beleuchtet, auf die ich hier nicht näher eingehen kann und die dem Goetheschen Prinzip der wiederholten Spiegelungen entsprechen, aber so viel ist klar, dass sie "von alten Zeiten" herkommt und sich in ihr die "alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur in dem ernstesten Streit erblicken lassen."
Diese Burg also symbolisiert das ewige Verhältnis von Naturgesetzlichkeit und Wirken der Menschenkraft. Sie steht symbolisch für das Wissen darum seit alters her.
Genau an diesem Platz in der Sonne hält sich der Löwe auf und er verweist damit darauf, dass es um ein Geschehen geht, dass diese Dimension in sich trägt: Es geht um ein Bewusstsein und Wissen von alters her.
Dieses Wissen macht das Kind mit seinem Tun für die Anwesenden fruchtbar, denn es sorgt dafür, dass die Kraft des Löwen und das, was er darstellt, nämlich die Kraft des Herzens, nicht umgebracht wird; alle, die zugegen sind - und auch wir als Leser - werden Zeugen eines Geschehens, das die Anwesenden und uns mit diesem Wissen, das seit alters her existiert, wieder neu verbinden will.
Das aber kann nur ein Kind leisten.
Ein puer aeternus, ein Knabe von Ewigkeit her, wie er in uns allen ist und wie er sich natürlich auch in der Geburt von Jesus findet. Was Letzterer bringt, will ja in jedem von uns sein, und es ist ein Bewusstsein jenseits jeglicher Konfession; mancher Atheist mag es leben "gegen" seinen Willen :-))
Dieses Wissen um das Kind, um den ewigen Knaben, das ewige Kind, ist bereits ein vorchristliches Wissen. Deshalb erfahren wir, wie Moses auf den Wassern des Nil überlebt, deshalb hören wir von David  und seinen Kampf gegen Goliath, deshalb wissen wir um die apokryphe Schrift des Tobias, der von dem Erzengel Raphael geleitet, das Heilmittel für seinen blinden Vater nach Hause bringen kann.
Deshalb wirkt das Kind in der Novelle schon, bevor es den Löwen besänftigt, schon auf die Erwachsenen ein; für sie singt es seine Verse, denn deren Einstellung, deren Sinnen ist Voraussetzung dafür, dass der Löwe sich genauso verhält!
So singt das Kind "mit reiner Kehle, heller Stimme und geschickten Läufen", vom Vater auf der Flöte begleitet, seine drei Strophen, die auf biblisches und mythologisches Geschehen Bezug nehmen, ein Bezug, der früheren Lesern geläufig war, heute aber, da die Bibelkenntnis so zurückgegangen ist, dass Golgatha für eine Zahnpasta und Gethsemane für eine Rockgruppe, nicht aber für den Garten, in dem Jesus seine letzten Anfechtungen vor seinem Tod erleiden musste, gehalten wird.

Das erste Bild, das im Folgenden den Propheten im Graben anspricht, bezieht sich allerdings auf eine sehr unbekannte apokryphe Schrift mit dem Titel "Vom Drachen zu Babel", in der ein Engel den Habakuk, ein Landmann, in Judäa lebend, der einen Brei für seine Schnitter auf dem Feld gekocht hatte, am Schopf packt und durch die Lüfte nach Babylon zu der Löwengrube trägt, damit Daniel inmitten seiner Löwen eine Speise erhalte; darauf also nimmt die erste Strophe des Liedes Bezug:

       Aus den Gruben, hier im Graben
      Hör ich des Propheten Sang;
      Engel schweben, ihn zu laben,
      Wäre da dem Guten bang?
      Löw und Löwin hin und wieder,
      Schmiegen sich um ihn heran;
      Ja, die sanften frommen Lieder
      Haben´s Ihnen angetan!

       Engel schweben auf und nieder
      uns in Tönen zu erlaben,
      Welch ein himmlischer Gesang!
      In den Gruben, in dem Graben
      Wäre da dem Kinde bang?
      Diese sanften frommen Lieder
      Lassen Unglück nicht heran:
      Engel schweben hin und wider
      Und so ist es schon getan.

      Denn der Ew´ge herrscht auf Erden,
      Über Meere herrscht sein Blick;
      Löwen sollen Lämmer werden,
      Und die Welle schwankt zurück;
      Blankes Schwert erstarrt im Hiebe;
      Glaub´  und Hoffnung sind erfüllt;
      Wundertätig ist die Liebe,
      Die sich im Gebet enthüllt.

Und nun heißt es in der Novelle:
Alles war still, hörte, horchte, und nur erst, als die Töne verhallten, konnte man den Eindruck bemerken und allenfalls beobachten. Alles war wie beschwichtigt, jeder in seiner Art gerührt. Der Fürst, als wenn er erst jetzt das Unheil übersähe, das ihn vor kurzem bedroht hatte, blickte nieder auf seine Gemahlin, die, an ihn gelehnt, sich nicht versagte, das gestickte Tüchlein hervorzuziehen und die Augen damit zu bedecken. Es tat ihr wohl, die jugendliche Brust von dem Druck erleichtert zu fühlen, mit dem die vorhergehenden Minuten sie belastet hatten. Eine vollkommene Stille beherrschte die Menge; man schien die Gefahren vergessen zu haben, unten den Brand und von oben das Erstehen eines bedenklich ruhenden Löwen. 
An den Erwachsenen schon zeigt sich, was sich nachher auch an dem Löwen zeigen wird.
Der Fürst selbst fragt vorsichtshalber die Mutter:
»Ihr glaubt also, daß Ihr den entsprungenen Löwen, wo Ihr ihn antrefft, durch Euren Gesang, durch den Gesang dieses Kindes, mit Hülfe dieser Flötentöne beschwichtigen und ihn sodann unschädlich sowie unbeschädigt in seinem Verschluß wieder zurückbringen könntet?«
Der Wärtel, der Wärter also, versichert der Mutter, dass er mit schussbereitem Gewehr dastehe; auch Honorio sitzt mit gespannter Doppelbüchse auf einem Mauerstück, um sofort eingreifen zu können, wiewohl der Knabe zunächst allein, ohne dass von außen eingegriffen werden könnte, in das Burggemäuer hinein muss, wohin sich der Löwe zurückgezogen hat.
Doch die Mutter weiß:
»Die Umstände sind alle nicht nötig; Gott und Kunst, Frömmigkeit und Glück müssen das Beste tun«.– »Es sei«, versetzte der Wärtel; »aber ich kenne meine Pflichten. Erst führ ich Euch durch einen beschwerlichen Stieg auf das Gemäuer hinauf, gerade dem Eingang gegenüber, den ich erwähnt habe; das Kind mag hinabsteigen, gleichsam in die Arena des Schauspiels, und das besänftigte Tier dort hereinlocken!« Das geschah; Wärtel und Mutter sahen versteckt von oben herab, wie das Kind die Wendeltreppen hinunter in dem klaren Hofraum sich zeigte und in der düstern Öffnung gegenüber verschwand, aber sogleich seinen Flötenton hören ließ, der sich nach und nach verlor und verstummte. Die Pause war ahnungsvoll genug; den alten, mit Gefahr bekannten Jäger beengte der seltene menschliche Fall. Er sagte sich, daß er lieber persönlich dem gefährlichen Tiere entgegenginge; die Mutter jedoch, mit heiterem Gesicht, übergebogen horchend, ließ nicht die mindeste Unruhe bemerken. Endlich hörte man die Flöte wieder; das Kind trat aus der Höhle hervor mit glänzend befriedigten Augen, der Löwe hinter ihm drein, aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde. Er zeigte hie und da Lust, sich niederzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch die wenig entblätterten, buntbelaubten Bäume, bis er sich endlich in den letzten Strahlen der Sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte, wie verklärt niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann, dessen Wiederholung wir uns auch nicht entziehen können:   
   Aus den Gruben, hier im Graben
   Hör ich des Propheten Sang;
   Engel schweben, ihn zu laben,
   Wäre da dem Guten bang?
   Löw und Löwin hin und wieder,
   Schmiegen sich um ihn heran;
   Ja, die sanften frommen Lieder
   Haben´s Ihnen angetan!
Zum Schluss heißt es noch:
(...) das Kind (sah) in seiner Verklärung aus wie ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener (der Löwe also) zwar nicht wie der Überwundene, denn seine Kraft blieb in ihm verborgen, aber doch wie der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene.
Ja, das Kind wird sogar dem Löwen noch einen Dorn aus dem Fußballen ziehen, bevor die Schlussverse die Novelle beschließen.

Im Grunde verrät das Goethesche Vokabular schon, wenn er zweimal von Verklärung und ebenfalls von siegreicher Überwindung schreibt, dass der alte Weimarer wusste, dass er hier eine im Grunde heilige Szene gestaltete, eine archetypische, die in jedes Menschen Herzen eingelagert ist, denn der Löwe bedeutet nun einmal die Kraft des Herzens und es ist jenes heilige Kind in uns, das diese Kraft den Leidenschaften entreißen und sie nutzbar machen kann einem Frieden in uns und unter den Menschen, einem Zustand der Liebe, von dem Goethe in seiner Marienbader Elegie gesprochen hat, indem er schrieb: Wir nennen´s fromm sein
Kein Zufall, dass auch in der Novelle von Frömmigkeit und fromm sein gesprochen wird

Nur das Kind in uns kann uns den Garten oder auch die Stammburg - um im Bild der Novelle zu bleiben - zu jener höheren Natur aufschließen, die sich in jedem von uns befindet, um dort den Löwen zu treffen.
Gewiss ein Weg der Überwindung.
Über und durch viele Leben.

Aber ich glaube, das Bewusstsein der Menschen ist weiter, als es den Anschein haben will, und manche suchen und finden den Kontakt zu diesem Kind in sich und ebenso nicht zum zerstörenden, sondern zum heiligen Feuer und zu jener Kraft, dem Mut, den wir brauchen, um diesen Weg zu jenem Kind in uns zu gehen.
Kleiner Nachtrag, aus dem Leben gegriffen: Lion hugs woman